Die Potentiale des Subversiven




Auszug aus einer Rede im Deutschen Nationaltheater Weimar zum Jubiläum “20 Jahre Weimarpreis” am 3. Oktober 2010

Es scheint mir angebracht, gerade am heutigen Tag … den wichtigen Beitrag alternativer Gruppen für den Neuanfang 1990 zu benennen. Vielleicht können Sie dann meine bis heute andauernde Sympathie für das Subversive verstehen …

Als  “Schlüsseljahr” ist für mich 1988 zu bezeichnen, in dem das  “Ensemble für Intuitive Musik Weimar”  (EFIM) fernab von der offiziellen DDR-Kulturpolitik die “1. Tage Neuer Musik”  mit 22 Werken des BRD-Komponisten Karlheinz Stockhausen durchführte. Als Veranstaltungsort diente die Denstedter Dorfkirche mit ihrer wiederentdeckten “Liszt-Orgel”. Die Zuhörer strömten in Scharen … 

Das geschah 1988 in einem Staat, in dem schon vieles drunter und drüber ging, wo sich aber auch immer mehr Kräfte mobilisierten, die nach Veränderung und Freiheit drängten. So ist es nicht verwunderlich, dass sich in jenem Jahr in Weimar gleich drei Initiativen gründeten. Das waren am 7. Oktober die „Galerie Schwamm“ in der Liebknechtstraße sowie im Dezember das Autonome Cultur Centrum „ACC“, das mit einem „Großen Weihnachtsliedersingen“ startete, und der „C. Keller“, der am Silvesterabend durch die hauseigene Blues- und Rockkapelle „Mop“ eröffnet wurde. Zu erwähnen ist natürlich auch die in den 1980er Jahren gewachsene Punk-Musik-Szene, die 1990 im besetzten Haus in der Gerberstraße 3 eine eigene Plattform fand.

Im Dezember 1989 gründete ich mit Hans Tutschku die Klang Projekte Weimar als „Unabhängige Vereinigung für Musik der Gegenwart“, „um frei von ideologischer Beeinflussung für zeitgenössische Musik einzutreten“. Ich erinnere mich mit Begeisterung an die im Frühjahr 1990 von den drei genannten Galerien veranstaltete „Kulturmeile“, die Tore zu Neuem aufgestoßen hat, aber zugleich verschüttete oder vernachlässigte Traditionslinien ans Licht der Öffentlichkeit brachte. 44 Veranstaltungen innerhalb von vier Wochen wurden quasi aus dem Nichts auf die Beine gestellt, was zugleich deutlich werden läßt, was da alles  auf eine Chance zur Realisation wartete.

Der Aufbruch mit und nach der „friedlichen Revolution“ war enorrrm … Dass fast alle der hier genannten Initiativen noch heute existieren, zeugt von ihrer ursprünglichen Kraft und Zähigkeit …  Neue sind hinzugekommen. Sie sind das ‘Salz in der Suppe in den „Open Gardens“ der Hochkultur! Stellvertretend seien hier das „Gaswerk“ und die Galerie „Eigenheim“ genannt. Und „Radio Lotte“, dessen Startsendung ich 1999 moderieren durfte. Einfach ins Studio gehen und live senden – in der DDR unvorstellbar! So war es z. B. möglich, unter dem Titel „Es ist fünf nach zwöl!“ am 20. April 2002 ein stadtweites Hupkonzert gegen den ersten Aufmarsch von Neonazis in der Klassikerstadt zu koordinieren …


Michael von Hintzenstern



Fotos, Maik Schuck